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Die Sage der Europa

Im Land Phoinikien ereignete sich zur Zeit des Königs Agenor eine merkwürdige Geschichte. Die Königstochter Europa träumte eines Nachts, dass zwei Erdteile in menschlicher Gestalt an ihr Bett traten und sich um sie stritten. Asien hieß der eine. Den Namen des anderen kannte sie nicht. Asien sagte :"Europa ist bei mir in Asien geboren und aufgewachsen. Sie gehört hierher und sonst nirgendwohin." Der andere Erdteil stritt hart mit Asien und rief: " Wo kämen wir denn hin, wenn jeder in dem Nest, in dem er geboren wird, hocken bleibt? Selbst die Vögel ziehen davon, wenn sie flügge geworden sind." Der Streit ging hin und her. Plötzlich nahm der für Europa fremde Erdteil das Mädchen und entführte sie. "Eine Königin wirst du werden", flüsterte er ihr zu. "Viele Länder werden nach deinem Namen benannt werden." Dann zerflatterten die Traumbilder.
Europa erwachte und sann nach über diesen seltsamen Traum. Wer nur hat mir diese Bilder geschickt, dachte sie, und was mögen sie bedeuten? Doch sie vergaß das Traumgespinst auch wieder.
Mit ihren Freundinnen und den Dienerinnen wollte Europa eines Nachmittags zu einer Wiese am Meeresstrand gehen. Dort wuchsen besonders schöne Blumen dicht bei dicht. Die Mädchen begannen zu pflücken und wollten sich Kränze binden. Sie fanden so viele Blüten, dass ihre Hände sie kaum noch fassen konnten. Europa sammelte nur rote Rosen. Im Kreis saßen sie schließlich beieinander, sangen und erzählten Geschichten und die Blumenkränze wuchsen unter ihren geschickten Fingern.

Vom Olymp herab fiel der Blick des Gottes Zeus auf die schöne Europa. Leidenschaft flammte in seinem Herzen auf. Gern hätte er das Mädchen für sich gewonnen. Aber er fürchtete die Eifersucht und den Zorn seiner Gattin Hera, Wenn er sich Europa nähern würde.
Doch Liebe macht erfinderisch. Er wies seinen Sohn Hermes an, einige Rinder aus der Herde von Agenor aus dem Bergland zu den Mädchen an den Strand zu treiben. Kaum war Hermes davongeeilt, um den Befehl seines Vaters auszuführen, verwandelte sich Zeus in einen Stier. Aber das war kein Arbeitstier wie tausend andere, nein, es war der wundervollste Stier, den die Erde je getragen hatte. Sein Fell war glatt und glänzte wie Gold, die breite Stirn zeigte einen schneeweißen Fleck und es sah aus, als ob er sich mit einem Diadem geschmückt hätte. Und erst die Hörner! Völlig gleichmäßig waren sie gewachsen und glichen der Farbe von edlem Bernstein.
Zeus gesellte sich zu den Rindern, die Hermes auf die Wiese genau zu dem Platz trieb, an dem die Mädchen saßen. die Tiere verharrten in einigem Abstand und begannen friedlich zu grasen.

Nur der herrliche Stier kam langsam näher. Zuerst wichen die Mädchen ein paar Schritte zurück, doch das Tier hatte nichts bedrohliches an sich, ja, es trieb vor den Augen der Mädchen allerlei Scherze, drehte sich im Kreise, machte lustige Sprünge und schien einen Tanz zu versuchen. Europa näherte sich als Erste dem zutraulichen Stier, kraulte ihm das weiche Fell und fütterte ihn mit saftigen Kräutern. Dankbar leckte der Stier ihr die Hand. Über seine Hörner hängte Europa ihm ihren Kranz aus Rosen. "Er sieht aus wie der König der Stiere", rief sie ihren Gefährtinnen zu und sie küsste seinen weißen Fleck auf der Stirn.
Da sank der Stier vor ihr in die Knie. "Lass uns auf seinem Rücken reiten", schlug Europa vor. "Dort ist Platz für wenigstens vier von uns."
Übermütig schwang sie sich auf den Stierrücken. Doch schnell richtete sich das Tier auf, und ohne auf ein anderes Mädchen zu warten, trabte er los, lief immer schneller und rannte in das Meer hinein. Der Stier schwamm weit hinaus, immer weiter und achtete nicht auf Europas Weinen und Flehen, sie doch zurückzutragen. Das Mädchen klammerte sich an den Hörnern fest. Die Küste war schon nicht mehr zu sehen. Der Tag neigte sich, es brach die Nacht herein, doch der Stier ermüdete nicht. Europa wusste nicht, wie weit er schon mit ihr geschwommen war, als im Morgengrauen endlich wieder Land am Horizont auftauchte.
An der Küste Kretas stieg das Tier ans Ufer, beugte seinen kräftigen Nacken und ließ Europa absteigen. Dann verschwand der Stier im Morgendunst. Verlassen stand das Mädchen am Strand und schrie seinen Jammer weit über das Meer hin. Niemand hörte Europas Stimme. Sie sank zu Boden und war bereit zu sterben.
Da trat aus dem nahen Wald ein junger Mann hervor. "Fürchte dich nicht vor mir", sagte er, "ich bin der Herrscher über diese schöne Insel. Ich werde dir Schutz gewähren."
Es blieb jedoch nicht allein bei dem versprochenen Schutz, der junge Mann bedrängte sie, seine Frau zu werden. In ihrer Angst stimmte Europa zu. Der Mann aber war kein anderer als Zeus selbst. Es dauerte nicht lange, dann verschwand er genau wie der Stier, und Eurpa war einsamer als zuvor.
Sie stieg auf eine steile Klippe über dem Meer und war so verzweifelt, dass sie sich in den Tod stürzen wollte. Doch da hörte sie hinter sich ein leises Lachen. Sie schaute sich um. Ihr Blick traf auf eine Frau, eine göttliche Erscheinung, prächtig anzuschauen. Sie hatte einen kleinen Jungen bei sich, der Pfeil und Bogen trug. Europa ahnte, dass Aphrodite, die Göttin der Liebe, vor ihr stand.
"Lass das Weinen", sprach die Göttin. "Zeus selbst war es, der dir in dem Stier und in der Gestalt des jungen Mannes erschienen ist. Du wirst einen Sohn von ihm zur Welt bringen. Sein Name soll Minos sein. Du, Europa, und Minos, der Zeussohn, werden über die Insel Kreta herrschen. Der ganze Erdteil, zu dem diese Insel gehört, wird deinen Namen tragen und Europa heißen."
Nun fiel Europa wieder ein, was sie in dem Palast ihres Vaters geträumt hatte, und sie erkannte die Bedeutung des Traums.

König Agenor hatte indessen in seiner Stadt Tyrus und auch in Sidon und in allen anderen Städten und Dörfern seines Landes nach Europa suchen lassen. Doch sie blieb verschwunden. Da sandte er seinen Sohn Kadmos aus und befahl ihm: "Finde deine Schwester Europa. Tritt mir erst wieder unter die Augen, wenn du mir meine Tochter zurückbringen kannst."

Kadmos forschte in vielen Ländern, fand aber keine Spur von Europa. Er wagte sich nicht ohne das Mädchen nach Tyrus zurück. Im fernen Griechenland, weit weg von Phoinikien, ließ er sich nieder. Er kam zu hohem Ansehen und großer Macht. Ihm ist der Bau der berühmten Stadt Theben zu verdanken.
Für Europa aber erfüllte sich alles, was Aphrodite ihr verheißen hatte. So wurde Kreta die Wiege Europas. 

©omposuit Tiefseeplötze 2001